Ein Fund vom Dachboden

 

Im Winter von 1998 zu 1999 erneuerte ich an meinem Hause die Eindeckung. Einer der Dachdecker warf die alten Ziegeln von oben herab und sie fielen in einen Container. Beinah schon vergessen und verschüttet lagerten einige schmutzige Papiere unter dem zersplitterten alten Ziegelschutt.

Da sprach mich einer der Arbeiter an: Ulf, da war alter Kram von Papieren von oben herabgeflogen. Hattest Du da Interesse ?

Ich war froh, daß er mir den Hinweis noch gab, aber ich war auch wütend, daß es fast schon zu spät war. Eilig kramte ich im Schutt und klaubte das dreckige Bündel heraus. Nein, es war kein Schatz ! Nur alte Papiere, eine aus farbigen Fäden und Stroh gefertigte Schützenkette, ein paar Fotos der Vorbesitzer und auch zwei Fotos vom Kaiser und seiner Gemahlin Viktoria.

Später fand ich in der Zeitfuchsschen Chronik treffende Worte:

 

(1717) „...Schließlich ist noch etwas zu gedencken von denen Monimentis Stolbergensibus.

Diese seyn nun nicht nur in den Schlössern/ Kirchen/ Stadthäusern/ sondern auch wohl gar bißweilen Privat-Häusern zufinden....“

 

Freilich dachte er hierbei an Inschriften auf Fahnen, Schilden oder gar Särgen. Aber dennoch hatte er vor drei Jahrhunderten bereits begriffen, daß auch der versteckteste Fund in einem unbedeutenden Haus von Wert sein könne. Oftmals mußte ich bei meinen Recherchen über Stolberger Häuser in Gesprächen mit den Besitzern erfahren, welch geringen Wert sie den Häusern und vor allem dem Inhalt von Briefen, Dokumenten oder Fotos beimaßen.

 

Den ollen Kram haben wir im Container versenkt.... Das Zeug haben wir in den Ofen gesteckt..   wir haben das Haus erst gekauft, da war alles besenrein....

 

Und so wurden unendlich viele Zeugnisse, die vielleicht eine nachfolgende Generation interessieren könnten, vernichtet. Nur weil derzeit (!) kein Interesse daran existiert.

 

Welch wertlosen Fund machte ich nun ? Die Fotos des Kaiserlichen Ehepaares sind kaum von Wert, dennoch gibt es sie bis heute. Die Schützenkette ist eher von symbolischem Wert.

Doch das eine Büchlein, das vom Schimmel erfaßt und nur im Fragment erhalten ist, erzählt eine eigene Geschichte. Es handelt sich um das Kassenbuch der Innung der Rad- und Gestellmacher.

Das Büchlein beginnt mit dem Jahr 1811 und endet im Jahr 1846. Leider ist die erste Seite kaum noch lesbar.

Im Jahr 1812 werden folgende Meister der Innung aufgeführt: Grölle, Gerhart, Stockmann, Carl Becker, Schuche, Hanckel, Liebau, Erhardt, Daniel Becker und Börnicke. Grölle war der Vorsitzende bis 1820.

Bis 1835 zahlte jedes Innungsmitglied vier Groschen jährlich. Ab 1836 wurden fünf Groschen verlangt. Von 1821 bis 1828 wurde Meister Stockmann als Vorsitzender geführt. Ihm folgt offenbar als Innungsmeister im Jahre 1829 Carl Becker, der fortan bis zum Jahr 1846 als Erster aufgelistet ist. 1836 erwähnt der Schreiber auch die Vornamen des Wilhelm, Christian und Carl Ehrhardt sowie von Heinrich Becker. 1836 wird erstmalig ein Meister Wolf aufge-listet. 1838 nahm der Schreiber die zwei Meister namens Wolf aus Schwenda und Straßberg in die Liste auf.

1839 waren folgende Meister in der Innung: Carl Becker, Hanckel, Liebau Sen., Grölle, Wilhelm Ehrhardt, Benkenstein, Becker, Liebau, Christian und Carl Ehrhardt, Stockmann und die beiden Wolf aus Schwenda und Straßberg.

Im Jahr 1844 gab der Kassenführer auch die Herkunft der Innungsmeister an:

Becker zu Stolberg, Christian Ehrhardt zu Uftrungen, Karl Ehrhardt daselbst, Wilhelm Ehrhardt daselbst, Christian Liebau zu Hayn, Christian Benkenstein daselbst, Heinrich Wolf zu Schwenda, Christian Wolf zu Rottleberode, Andreas Hankel zu Breitenbach, Grelle zu Uftrungen, Liebau zu Breitenbach und Grashopp von Straßberg.

 

Anbei lag noch ein Zettel vom Jahr 1846, der eine Auflistung der Speisen und Getränke der Innungsmeister, die sie bei ihrer Zusammenkunft verzehrten, beinhaltet:

Brantwein 7 Silbergroschen, Brodt 6 Sgr, Taback 1 Sgr und 6 Pfennige, Bier 3 Sgr,

Senf 1 Sgr, Bratwürste 10 Sgr., Butter 4 Sgr 6 Pfennige, Kaffee 3 Sgr., Licht 1 Sgr.

Die Summe ergab einen Taler und 13 Silbergroschen.

 

Seit 1829 war der Stolberger Carl Becker der Vorsitzende der Innungsmeister der Rad- und Gestellmacher. Nun stellte sich mir die Frage, wann dies Büchlein nun den Weg in das Dach meines Hauses kam. Die Zusammensetzung des Fundes läßt den Zeitraum für die „Versenkung“ unter die äußeren Aufschieblinge des Daches eingrenzen. Das Buch ist mit dem letzten Eintrag im Jahr 1846 geschlossen worden. Die Bilder des Kaisers und seiner Gattin stammen aus der Zeit um 1910, spätestens 1920. Dies dürfte auch jene Zeit gewesen sein, als mein Vorbesitzer Emil Storch das Dach letztmalig hat um- oder auch neu decken ließ.

Welche Beziehung jedoch hatte der Innungsmeister Carl Becker zu meinem Hause ?  

Carl Beckers Vater Johann Moritz Becker war Rad- und Gestellmacher zu Gernrode. Er siedelte mit seiner Familie nach Stolberg und verstarb dort im April 1790. Er hinterließ vier Kinder, die außer seinem zweiten Sohn Carl alle unverheiratet blieben.

Im August 1836 verstarb in Stolberg seine unverheiratete Tochter Johanne Catharina Elisabeth im Alter von 76 Jahren an Altersschwäche. Vier Monate später wurde der 57-jährige Sohn Jacob, der wie der Vater und Bruder Carl ebenfalls von Beruf Rad- und Gestellmacher war, zu Grabe getragen. Im Juni 1837 verstarb auch die unverheiratete Tochter Elisabetha im Alter von 74 Jahren in Stolberg. Es verblieb von der Familie nur noch Carl.

 

Carl Becker heiratete 29jährig als Junggeselle und gräflich Stolberger Hof-Stellmacher im Juni 1799 die Jungfer Johanne Louise Friederike, Tochter des Stolberger Fleisch- und Knochenhauers Johann Huldreich Burkardt (Niedergasse 5).

Im Jahre 1807 übernahm er das Nachbarhaus (Niedergasse 3) vom altersschwachen Hofjäger Tressel. Carl Becker wohnte vermutlich bis zu seinem Tod in diesem Haus. Er verstarb 77- jährig am 15. Januar 1847 nachmittags 2 Uhr und wurde Tags darauf in Stolberg auf dem Stadtgottesacker begraben. Er hinterließ seine Witwe, vier majorenne und eine minorenne Tochter, sowie einen majorennen Sohn.

Sein Sohn Andreas Heinrich hatte wenig Glück in seinem kurzen Leben. Er war wie der Vater ein Rad- und Gestellmacher geworden. Im Mai 1835 heiratete er in St. Martini in Stolberg Johann Henriette Marie Friederike Kanngießer, einzige Tochter des Seilers Andreas Christoph Kanngießer. Im April 1840 hatte seine Frau eine Totgeburt. Im März 1844 verlor das Ehepaar den knapp siebenjährigen Sohn Bernhardt Ernst Ludwig. Seine erst 44-jährige Frau verstarb bereits im August 1850. Andreas Heinrich folgte seiner Frau ebenfalls jung mit erst 50 Jahren im Januar 1853. Er hinterließ seine Mutter und nur einen Sohn.

Nach dem Tod des Innungsmeisters Carl Becker im Januar 1847 wurde Meister Liebau aus Hayn der Vorsitzende der Innung. Am 4. März übersandte der Stolberger Rat an die Königliche Regierungskommission in Merseburg ein Schreiben mit den Artikeln der Innung.

Kommissar Winkler von der Abteilung des Inneren vom Königlichen Amt in Merseburg beauftragte am 4. Juni 1847 den Magistrat zu Stolberg mit der Auflösung der Stellmacher-Innung. Daraufhin luden die Ratsherren die Mitglieder der Stellmacher-Innung zum 6. Juli 1847 ein. Es erschienen Meister Liebau aus Hayn, Wolf aus Rottleberode, Wilhelm und Christian Ehrhardt sowie Christian Grölle aus Uftrungen. Sie nahmen die Entscheidung der Königlichen Regierung zur Kenntnis und erklärten:

 

(1847) „....wir wollen die Innung, welche zeither für die Stellmacher hier bestanden hat,

auflösen und finden dagegen nichts zu erinnern, daß das vorhandene Innungsvermögen zu Folge des § 99 der Allg. Gewerbe-Ordnung der hiesigen Kommunalbehörde überlassen resp. überwiesen werde, müssen jedoch beantragen, daß von dem Baarbestande 20 Sgr. an die Kasse des verstorbenen Stellmachermeister Becker, welche wir für Innungslocal an Miethe pro 1846 und 47 schulden, gezahlt werden....“ (a)

 

Der königliche Regierungsrat von Hinckeldey genehmigte mit Entschluß und Schreiben vom 5. November 1847 die Auflösung der Innung.

Der Stolberger Magistrat untersuchte in den folgenden Monaten, ob die Innung noch über nennenswerte Vermögen verfügte. Sie entnahmen am 21. Juli 1848 die Rechnungsbücher der Lade und nahmen darin gefundene Gegenstände und auch den Schlüssel der Lade in ihre Verwahrung. Am folgenden Tag setzten die Ratsherren ein Schreiben an die Königliche Kommission auf, in denen sie mitteilten, daß lediglich 9 Silbergroschen vorhanden seien, daß aber bereits im Jahre 1845 unter den Mitgliedern der Innung 9 Taler verteilt worden waren und „...da die Innungsmitglieder nicht befugt waren, baare Bestände unter sich zu vertheilen, so ersuchen wir Ew. ganz ergebenst, den frühern Innungsmitgliedern die Restitution jener Gelder gefälligst auferlegen zu wollen...“ (a)

 

Ob sich die Königliche Regierung zu Merseburg der Eintreibung dieser Summen annahm, muß offen bleiben, da die Stolberger Akten keinen Bericht dazu liefern. Offenbar hatten sich die Innungsmitglieder mit dem nahenden Ende des Innungsmeisters Carl Becker bereits mit der Auflösung der Innung abgefunden und das Vermögen der Innung „rechtzeitig aufgelöst“.

 

In meinem Hause Neustadt 21 wohnte von 1838 bis 1850 der Hutmacher Christoph Kart-häuser, der das Grundstück von der Rad- und Stellmacher-Familie Hempel übernommen hatte.

Die Hinterlassenschaft des Innungsbuches entstand durch die weitere Nutzung der Liegen-schaft für den Hofstellmacher Carl Becker, der die vorhandenen Werkstätten und das „Local“ der Innung in Miete angenommen hatte. Mit dem Tod des Carl Becker endete die Geschichte der Innung der Rad- und Gestellmacher in Stolberg. Das Grundstück geriet in den nachfol-genden Jahren um 1850 mehrfach in Subhastrationen (Zwangsversteigerungen). Zahlreiche Wechsel der Eigentümer folgten (Nadler Pampel, Kaufmann Hartmann aus Nordhausen, die Familie des Tischlers Müller, schließlich Maurermeister Storch). Vielleicht war es ein kleiner Junge - Sohn eines der Besitzer des Hauses - der auf dem Dachboden alten umherliegenden Krempel fand und diese merkwürdigen Dinge als „seinen Schatz“ im äußersten Winkel der Aufschieblinge im Dach versteckte.   Ihm verdanken wir diese Geschichte.

 

(a) Stadtarchiv Stolberg/ Harz, IV, 73

 

(Im Heft 11 des Stolberger Geschichts- und Traditionsverein e. V. (2016) gedruckt)

 

(Verf.: Ulf Sauter, 2016)